Afrikas nationale Grenzen ohne koloniale Aufteilung: Eine hypothetische Betrachtung

Im 19. und 20. Jahrhundert haben die Europäer den afrikanischen Kontinent kolonisiert. Doch wie hätte die (politische) Landschaft Afrikas ohne den Kolonialismus aussehen können?

Die Kolonisation Afrikas durch europäische Mächte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert prägt den Kontinent nachhaltig. Ein zentraler Aspekt dieser Periode war die willkürliche Grenzziehung ohne Rücksicht auf ethnische, kulturelle und sprachliche Zugehörigkeiten der Bevölkerung. Während der Berliner Konferenz von 1884-1885 teilten die Vertreter 13 europäischer Staaten sowie der USA und des Osmanischen Reiches den afrikanischen Kontinent willkürlich entlang von Gebirgen, Flüssen, Längen- und Breitengraden oder – vor allem im Norden Afrikas – einfach mit dem Lineal untereinander auf. So kontrollierten die Europäer bis 1914 etwa 90 Prozent des gesamten Kontinents. Die damals gezogenen Grenzen gelten in vielen Ländern noch heute und haben weitreichende Konsequenzen. So wurden verschiedene Kulturen und Völker unter anderem mit unterschiedlichen Sprachen, Traditionen und Religionen auf einmal gezwungen zusammenzuleben oder sie wurden gewaltvoll getrennt. Das führt bis heute zu Konflikten.

Doch stellen wir uns einmal vor, die europäischen Mächte hätten sich nicht das Recht angemaßt, über die Zukunft eines gesamten Kontinents zu entscheiden, den sie kaum kannten und dessen Kulturen, Völker und politische Strukturen sie weitestgehend ignorierten. Wie hätte der afrikanische Kontinent dann aussehen können?

Wie entstehen Staaten von „innen heraus“?

Für dieses Gedankenspiel ist es sinnvoll einmal zu klären, wie Staaten überhaupt von „innen heraus“ entstehen können. Die Entstehung von Staaten ist ein komplexer Prozess für den es kein vorgefertigtes Muster gibt. Es gibt jedoch verschiedene wiederkehrende Faktoren, die den Staatsbildungsprozess beeinflussen können. Die Entstehung von Nationalstaaten wie Deutschland, Japan oder (Süd)Korea beispielsweise ist zurückzuführen auf eine gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte sowie auf politische und wirtschaftliche Integration und der daraus resultierenden Identität.

In sogenannten Vielvölker-/multiethnische und multikulturelle Staaten – lange Zeit als Gegenmonopol zum Nationalstaat geltend – koexistieren verschiedene ethnische Gruppen und Kulturen mit eigener Sprache, eigenen Traditionen, eigener Religion und gemeinsamen historischen Erfahrungen. Beispiele dafür sind Kanada, die Schweiz oder auch Pakistan. Die verschiedenen ethnischen Gruppen sind rechtlich gleichgestellt oder ihnen wird wenigstens ein Mindestmaß an Selbstbestimmung gewährt. Eine klare Abgrenzung der Staatsformen ist heute jedoch in vielen Fällen gar nicht mehr möglich, da die meisten modernen Nationalstaaten von einer pluralistischen Gesellschaft geprägt sind.

Weitere staatsbildende Kräfte können ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, politische Bündnisse, dynastische Ehen sowie militärische Konflikte sein. Heutige Staatsformen sind oft über Jahrhunderte hinweg gewachsen.

Afrikas hypothetische nationale Grenzen ohne koloniale Aufteilung

Vor der europäischen Kolonisation war Afrika ein Kontinent mit einer Vielzahl komplexer Gesellschaften, Königreiche und Imperien. Beispiele hierfür sind das Songhai-Reich in Westafrika – das größte afrikanische Reich der Geschichte – oder das Große Simbabwe-Reich. Diese politischen Einheiten hatten oft klar definierte, wenn auch dynamische Grenzen, die durch Kriege, Handelsbeziehungen oder diplomatische Bündnisse bestimmt wurden. In einer alternativen Geschichte hätten sich diese bestehenden politischen Strukturen weiterentwickelt.

Das Songhai-Reich in Westafrika

Songhai-Reich (15.-16. Jahrhundert)

Songhai-Reich (15.-16. Jahrhundert)

So war das Songhai-Reich eines der mächtigsten und wohlhabendsten Reiche in Westafrika, bekannt für seine fortschrittliche Verwaltung, seinen Reichtum und seine kulturelle Blüte. Im späten 16. Jahrhundert ging es durch eine marokkanische Invasion unter, bietet aber dennoch ein interessantes Szenario: Denn das Reich hätte sich nach der Invasion regenerieren können und sich zu einem wichtigen geopolitischen Akteur entwickeln können. Oder es hätte in kleinere Staaten zerfallen können, die in Konkurrenz um die Vorherrschaft in der Region stünden oder friedlich miteinander kooperieren. Eine andere Möglichkeit wäre die Oberherrschaft Marokkos über das Gebiet gewesen, bei der lokale Herrscher ihre Autonomie behalten hätten.

Großes Simbabwe-Reich & Matabele-Königreich im südlichen Afrika

Das Große Simbabwe-Reich, zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert eines der bedeutendsten Königreiche im südlichen Afrika, war bekannt für seine beeindruckenden Steinbauten, seinen Handel und seine politische Macht. Die Volksgruppe der Shona, die Groß-Simbabwe gründeten, hatten Zugang zu den Häfen an der ostafrikanischen Küste und trieben u.a. Handel mit China und Europa. Mit Ankunft der Portugiesen an der Ostküste des afrikanischen Kontinents brach der Handel zusammen und das Reich zerfiel. Aus dem Süden drangen Teile der Volksgruppe der Ndebele aus Südafrika in das Gebiet, unterwarfen die Shona und gründeten das Matabele-Königreich. Dies war eines der letzten souveränen afrikanischen Königreiche vor der britischen Kolonialisierung.

Ohne die Ankunft der Briten hätte das Matabele-Königreich weiterbestehen und sich stabilisieren können, möglicherweise durch die Konsolidierung der Macht und den Aufbau neuer Handelsnetzwerke mit anderen afrikanischen Regionen und der arabischen Welt. Ein anderes mögliches Szenario wäre, dass die Shona einen Teil ihrer Souveränität hätten zurückgewinnen können, entweder durch militärischen Widerstand oder durch geschickte Diplomatie. Eine Neuordnung der Machtverhältnisse im südlichen Afrika hätte zur Entstehung eines regionalen Bündnisses oder einer Föderation zwischen den Shona und den Ndebele führen können, in der beide Völker ihre kulturellen und politischen Identitäten bewahrten und gemeinsam die Region dominierten.

Die Swahili-Küste in Ostafrika

Swahili-Küste

Swahili-Küste

Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, auch von kleineren Gemeinschaften, über die mehr oder weniger bekannt ist. Über den Kontinent verteilt hätten sich ethnisch und kulturell verwandte Gemeinschaften zu größeren politischen Einheiten zusammenschließen können. Entlang der großen Handelsrouten und Handelsstädte hätten sich möglicherweise Staaten gebildet, die um wirtschaftliche Zentren organisiert gewesen wären. Auch wäre es denkbar, dass sich Staaten um große religiöse Zentren oder durch gemeinsame religiöse Überzeugungen zusammengefunden hätten. Entlang der Swahili-Küste z.B., die durch ihre Handelsverbindungen zum Indischen Ozean zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert florierte, hätten multiethnische Handelsstädte wie Mogadischu, Kilwa, Sansibar und Mombasa ein größeres, zusammenhängendes Staatsgebilde entwickeln können, das vom gemeinsamen Handel geprägt, im Islam verankert und durch die Sprache Swahili verbunden gewesen wäre.

Weit entfernt von der heutigen Realität…

Während es heute unmöglich ist zu sagen, wie sich Afrika ohne Kolonialisierung entwickelt hätte, so zeigen die Beispiele und der Blick auf historische Prozesse eine internen Dynamik, die ohne europäische Fremdherrschaft mit großer Wahrscheinlichkeit eine stark von den heutigen nationalen Grenzen abweichende Landkarte Afrikas hervorgebracht hätte. Die Grenzen wären über Jahrhunderte gewachsen, sicherlich auch durch gewaltvolle Auseinandersetzungen und Invasionen anderer Reiche oder Länder. Sie wären wahrscheinlich dennoch stärker an den bestehenden ethnischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten orientiert gewesen, was möglicherweise zu stabileren (innerstaatlichen) politischen Strukturen geführt hätte, auch wenn die Realität komplex und vielschichtig geblieben wäre.

Quellen

Bundeszentrale für politische Bildung: Ausbreitung des Kolonialismus (Mai 2005)

Deutsche Welle: Als in Berlin Afrikas Schicksal beschlossen wurde (Februar 2015)

Heinrich Böll Stiftung: Grenzen in Afrikas als Last und Herausforderung (Mai 2019)

Neue Züricher Zeitung: Wie mit einem Lineal gezogen (Juli 2014)

Das Parlament: Einfach mitten durchgeschnitten- ohne Rücksicht auf historische Begebenheiten (Juli 2004)

Universität Oldenburg – Ome-Lexikon: Vielvölkerstaat (Letzter Zugriff im August 2024)

Statista: Kolonialbesitz in Afrika (Juni 2006)

Bundeszentrale für politische Bildung: Nation und Nationalismus (68. Jahrgang, 48/2018, November 2018)

Anderson, Benedict: Imagined Communities – Reflections on the Origin and Spread of Nationalism:  The Origins of National Consciousness (3. Auflage, 2006)

Bundeszentrale für politische Bildung: Ein Kontinent im Umbruch (Dezember 2005)

World History: Swahili-Coast (April 2019)

Afrika Junior: Die Geschichte von Simbabwe (Letzter Zugriff im August 2024)

Bundeszentrale für politische Bildung: Vielvölkerstaat (Letzter Zugriff im August 2024)

Verfasst am 22. August 2024