Äthiopien gehört zu den ältesten Ländern der Welt. Als die europäischen Großmächte 1884 den „Wettlauf um Afrika“ begannen, war das Land – damals bekannt als Kaiserreich Abessinien – neben Liberia das einzige auf dem afrikanischen Kontinent, das seine Unabhängigkeit gegen die kolonialen Eroberungsversuche des 19. Jahrhunderts behaupten konnte. Doch auch Äthiopien blieb nicht verschont: Das Königreich Italien hatte bereits die Kolonie Eritrea an der Ostküste gegründet und strebte nun danach, sein Einflussgebiet auf abessinisches Territorium auszuweiten. Wie gelang es Äthiopien also, die kolonialen Bestreben Italiens abzuwehren?Der Vertrag von Wuchale und die Täuschung ItaliensMenelik II, 1889 bis 1913 Kaiser von Äthiopien, hat schon früh erkannt, dass moderne Waffen der Schlüssel zur Macht sein würden. Er begeisterte sich für europäische Gewehre und handelte mit europäischen Mächten, um seine Armeen auszurüsten. Insbesondere der Kontakt zu Italien war für Menelik wertvoll, der ihm bequemen Zugang zu Europa und seinen Technologien verschaffte, Ärzte sowie zahlreiche Waffen lieferte. Gestärkt durch die Waffenlieferungen aus Europa – vor allem von Italien – führte Menelik militärische Feldzüge durch, in denen er unter anderem die Regionen Arussi, Harar, Kulo, Konta, Gurage und Wallaga seinem Reich unterwarf. Die Freundschaft zwischen Äthiopien und Italien gipfelte 1889 in einem Friedens- und Freundschaftsvertrag – dem sogenannten Vertrag von Wuchale.Der Vertrag sollte für beide Seiten von Vorteil sein. So erkannte Menelik die italienische Souveränität über den größten Teil der eritreischen Hochebene an, während Italien ihn als Kaiser anerkannte – die erste Anerkennung dieser Art, die ihm zuteilwurde – und darüber hinaus versprach, dass er Waffen und Munition über italienisches Gebiet einführen durfte.Was Menelik nicht wusste: Die amharische Fassung des Vertrags unterschied sich erheblich von der italienischen. Während die amharische Version des Vertrags in Artikel 17 von einer freiwilligen Zusammenarbeit sprach, erklärte die italienische Version Äthiopien faktisch zu einem italienischen Protektorat und versuchte damit, das italienische Kolonialgebiet auszuweiten. Als Menelik dies herausfand, forderte er eine Zurücknahme dieser Deutung, was Italien verweigerte. Was darauf folgte war nicht nur die Kündigung des Vertrags durch Menelik II 1893, sondern auch die größte Niederlage einer europäischen Kolonialmacht auf dem afrikanischen Kontinent.Die Schlacht von AdwaZunächst hielt Menelik lange Jahre still, während er sich gleichzeitig mit seinen Verbündeten - zusammengesetzt u.a. auch aus denjenigen Rivalen, ehemaligen Feinden und unterworfenen Regionen, die er zuvor mit Hilfe von Italien gewaltsam eroberte - auf einen militärischen Gegenschlag vorbereitete. Am 1. März 1896 trafen die beiden Armeen bei Adwa aufeinander. Menelik hatte rund 100.000 Krieger versammelt – viele von ihnen mit modernen Gewehren und russischer Artillerie ausgerüstet. Die italienischen Soldaten waren dagegen schlecht vorbereitet: Chaotische Nachtmärsche, fehlerhafte Karten und mangelhafte Planung führten dazu, dass ganze Truppenteile noch vor Beginn der eigentlichen Schlacht verloren gingen. Als die äthiopischen Truppen in voller Stärke angriffen, war die italienische Armee rasch zerschlagen. Es war eine überwältigende und demütigende Niederlage für Italien.Die "Schlacht von Adwa" gilt als welthistorisches Ereignis: Erstmals wurde eine europäische Armee von einer afrikanischen Armee entscheidend geschlagen. Schon bald darauf, noch 1896, wurde ein Friedensvertrag – der Vertrag von Addis Abeba – geschlossen, Äthiopien wurde als souveräner Staat anerkannt und diplomatische Gesandtschaften aus fast allen Ländern Europas etablierten ihre Botschaften.Gleichzeitig erschütterte der Triumpf von Adwa die rassistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts: Ein afrikanisches Heer hatte eine europäische Armee in einer offenen Feldschlacht vernichtend geschlagen. In Europa suchten Kommentatoren verzweifelt nach Erklärungen und gingen sogar so weit, den Äthiopiern kurzerhand ihr Schwarzsein abzusprechen, um den eigenen Rassismus aufrechtzuerhalten. Währenddessen hallte durch ganz Afrika die Nachricht: Ein freies, siegreiches afrikanisches Land war möglich.Nach Adwa: Der zweite italienische Angriff auf ÄthiopienDoch der italienische Traum von einem eigenen Kolonialreich in Ostafrika lebte weiter. 1935, fast vierzig Jahre später, griff Italien erneut an – diesmal unter der faschistischen Regierung von Benito Mussolini.Im sogenannten Zweiten Italienisch-Äthiopischen Krieg marschierten italienische Truppen erneut in Äthiopien ein. Anders als 1896 setzten sie nun moderne Waffen, Luftangriffe und sogar Giftgas gegen die äthiopische Zivilbevölkerung ein. Auch schlossen sich einige Gruppen im Norden Äthiopiens Italien an, um gegen Haile Selassie zu kämpfen, der von 1930 bis 1974 Kaiser Äthiopiens war. Trotz erbittertem Widerstand musste Kaiser Haile Selassie 1936 ins Exil fliehen. Italien proklamierte die Annexion Äthiopiens und vereinte es mit Eritrea und Somalia zu „Italienisch-Ostafrika“. Da Äthiopien jedoch nur teilweise besetzt werden konnte, konnte es auch jetzt nicht vollständig kolonisiert werden.Zudem blieb der Sieg nicht von Dauer: Während des Zweiten Weltkriegs unterstützten britische und äthiopische Truppen einen erfolgreichen Widerstand. 1941 wurde Haile Selassie wieder als Kaiser eingesetzt, und Äthiopien bewahrte dauerhaft seine Unabhängigkeit.Nicht zu besiegen, aber auch nicht zu vereinenEine Kombination aus militärischem Widerstand, diplomatischem Geschick und geografischen sowie politischen Umständen führte dazu, dass Äthiopien die Kolonialisierungsabsichten Italiens abwehren konnte. Bis heute wird der Sieg von Adwa in Äthiopien jährlich am 1. März – einem nationalen Feiertag - mit Paraden und Ansprachen gefeiert. Die äthiopischen Nationalfarben Grün, Gelb und Rot wurden zum Symbol afrikanischen Stolzes und der Einheit – viele unabhängige Nationen tragen seither Varianten dieser Farben in ihren eigenen Flaggen.Doch während Kaiser Menelik II die verschiedenen ethnischen Gruppen gegen Italien einst vereinen konnte, konnte sich eine fortlaufende gemeinsame nationale Identität der heute insgesamt 86 ethnischen Gruppen nie vollständig entwickeln. Das liegt zum einen an der Geografie des Gebietes: Äthiopien ist ein gebirgiges Land – die verschiedenen Volksgruppen lebten und leben oft geografisch komplett isoliert voneinander.Darüber hinaus ist bis heute umstritten, inwiefern sich die Bildung des äthiopischen Nationalstaats auch als Form innerer Expansion und Machtsicherung durch zentrale Eliten vollzog. In dieser Lesart erscheint das äthiopische Reich nicht nur als Bollwerk gegen äußere Kolonisierung, sondern auch als Struktur, die innerhalb ihrer Grenzen asymmetrische Machtverhältnisse erzeugte – mit politischen, kulturellen und ökonomischen Benachteiligungen einzelner Gruppen. Einige dieser Gruppen sehen sich deshalb nicht nur als Teil eines gemeinsamen Staates, sondern auch als intern marginalisiert. Wiederkehrende ethnopolitische Spannungen, etwa der militärisch ausgetragene Konflikt in der Tigray-Region (2020–2022), lassen sich nur im Kontext dieser komplexen historischen Entwicklungen verstehen.Die Geschichte Äthiopiens zeigt: Der erfolgreiche Widerstand gegen äußere Unterwerfung garantiert noch keine innere Einheit – und der Kampf um Gleichberechtigung und Teilhabe ist auch in einem formal souveränen Staat keineswegs abgeschlossen.QuellenDan Snow‘s History Hit: Ethiopia: All You Need to Know (Dezember 2020) Anthology of Heroes: SAVAGES: Ethiopia Vs Colonization | Part 1: Scramble For Africa (August 2022) Anthology of Heroes: SAVAGES: Ethiopia Vs Colonization | Part 2: David & Goliath (September 2022) Caspian Report: How Ethiopia could trigger Africa's deadliest conflict (Januar 2024) Britannica: Italo-Ethiopian War (Letzter Zugriff Juni 2025)UNESCO International Scientific Committee for the Drafting of a General History of Africa: General History of Africa, Volume VII: Africa under Colonial Domination 1880–1935 (A. Adu Boahen, Ed.). UNESCO Publishing (1990)Verfasst am 1. Juli 2025