Europas später wirtschaftlicher Aufstieg – und was der Kolonialismus damit zu tun hat

Lange vor Europa’s wirtschaftlichen Aufstieg prägten afrikanische und asiatische Reiche den Welthandel. Wie kam es zur heutigen wirtschaftlichen und politischen Macht Europas?

Heutzutage werden Wohlstand und „Entwicklung“ vor allem mit dem globalen Norden verbunden, also vor allem mit Europa und den USA. Doch das war nicht immer so - über Jahrhunderte hinweg prägten asiatische und afrikanische Reiche wie das Mongolische Reich, das Fatimiden-Kalifat und die Qing-Dynastie maßgeblich den weltweiten Handel, die Wissenschaft und den kulturellen Austausch. Wie sah der Welthandel früher aus? Was hat sich verändert – und warum? 

Die frühe Globalisierung (500-1800) 

Häufig beginnt unsere Geschichtserzählung über die globale Wirtschaft mit dem 18.-19. Jahrhundert und der industriellen Revolution in Großbritannien. Allerdings gab es schon lange vorher weit entwickelte Handelssysteme. Zwischen 500 und 1800 – eine Zeit, in der in Europa größtenteils das Mittelalter vorherrschte – erlebte die Welt eine Phase der frühen Globalisierung afrikanischer und asiatischer Handelsräume (in der Literatur häufig als „orientalische Globalisierung“ bezeichnet). Diese Zeit war geprägt von intensiven Handelsbeziehungen zwischen nahezu allen großen Zivilisationen der Zeit (mit Ausnahme von Nord- und Südamerika).  

Zu den bedeutendsten Reichen dieser Epoche zählten T’ang-China (618–907), das islamische Umayyaden- und darauffolgend das Abbasiden-Kalifat (661–1258) sowie das spätere Fatimiden-Kalifat in Nordafrika (909–1171). Diese Reiche standen in engem wirtschaftlichem, kulturellem und wissenschaftlichem Austausch. Die Handelsrouten wurden stetig erweitert und wissenschaftliche Erkenntnisse über Kontinente hinweg weitergegeben. 

Das Fatimid Caliphate in Nordafrika 

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fatimids_Empire_909_-_1171_%28AD%29.PNG
Bild: ©Arab League at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons


T’ang-China

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_the_Tang_Empire_and_its_Protectorates_circa_660_CE.png
Bild: © naturalearthdata.com, offered to the Public Domain per Terms of Use, CC0, via Wikimedia Commons

Die Seidenstraße 

Die großen Imperien und bedeutenden Handelsstädte jener Zeit waren durch ein weitverzweigtes Netz von Handelswegen verbunden – allen voran durch die Seidenstraße. Sie erstreckte sich von China über Indien bis hin nach Ostafrika und Südeuropa. Entlang dieser Routen wurden nicht nur Seide, Gewürze und Edelmetalle gehandelt, sondern auch Ideen, Religionen und wissenschaftliche Erkenntnisse weitergegeben. 

Afrikanische Handelsnetzwerke 

In Afrika waren vor allem die Küstenstädte des Swahili-Handelsnetzwerks – etwa im heutigen Somalia, Kenia, Tansania und Mosambik stark in den internationalen Handel eingebunden. Auch das heutige Ägypten und Äthiopien waren Teil der Seidenstraße. 

Doch die Vernetzung reichte weit über die Küsten hinaus: Innerhalb des afrikanischen Kontinents existierten ebenfalls bedeutende Handelsrouten. So verband der transsaharische Handel die Königreiche Westafrikas mit Nordafrika. Über Karawanenwege wurden Salz, Gold, Textilien und Kultur ausgetauscht. Die Hausa-Staaten im heutigen Nigeria unterhielten komplexe Handelsnetze, ebenso wie die Reiche im südlichen Afrika. 

Das Songhai-Reich © via Wikimedia Commons
Das Songhai-Reich © via Wikimedia Commons

Beispiele sind das Monomotapa-Reich und Groß-Simbabwe, die als Handels- und Machtzentrum im südlichen Afrika dienten. Weitere bedeutende Handelszentren dieser Zeit waren das Songhai-Reich (im heutigen Mali und Ghana) und das Aksumitische Reich im heutigen Äthiopien, sowie das Königreich Kongo. 

Handelsreisende und Entdecker 

Außerdem gab es bereits früh Reisende und Entdecker aus Asien und Afrika, die weite Distanzen zurücklegten, zum internationalen Austausch beitrugen und neues Wissen nach Hause brachten. Ein bekanntes Beispiel ist Ibn Battuta (1304–c.1369) aus Marokko, der Nordafrika, den Nahen Osten, Zentral- und Südostasien sowie China in einer Zeitspanne von fast 30 Jahren bereiste. Seine Reiseberichte sind im Buch “Rihla” (Die Reise) niedergeschrieben

https://www.worldhistory.org/image/18929/ibn-battutas-travels-1325-1354/
Bild: © Simeon Netchev via World History Encyclopedia

Europa – ein noch unbedeutender Akteur im globalen Machtgefüge 

Im gleichen Zeitraum zwischen 500 und 1500 war Europa im globalen Vergleich ein politisch und wirtschaftlich unbedeutender Raum. Der Kontinent war stark zersplittert, geprägt von feudalen Strukturen und lokaler Herrschaft. Die meisten Gesellschaften waren agrarisch geprägt, technologische Innovationen beschränkten sich auf kleine regionale Entwicklungen. Für die großen Reiche in Asien und im Nahen Osten spielte Europa kaum eine Rolle – weder als Handelspartner noch als politischer Akteur. Nur vereinzelt wurden europäische Reisende und Händler in den großen Handelszentren Asiens empfangen. Erst ab dem späten 15. Jahrhundert begann Europa, gezielt Zugang zu den bereits bestehenden globalen Handelsnetzwerken zu suchen – meist als Nachzügler und zunächst in untergeordneter Rolle. 

canva/technologie

China hingegen durchlebte bereits im 11. Jahrhundert während der Song-Dynastie das „erste industrielles Wunder“: Es kam zu einer massiven Steigerung der Stahl- und Eisenproduktion, zur Einführung eines bargeldbasierten Steuersystems, zu tiefgreifenden Reformen in der Landwirtschaft und bedeutenden Fortschritten in der Navigation und Militärtechnologie. All das sind Entwicklungen, die sonst in der Geschichtserzählung häufig der Industrialisierung in Großbritannien im 18. Jahrhundert zugeordnet werden.

Während Europa noch im 12. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht in vormodernen Strukturen verharrte, erreichte es den technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand Chinas aus dieser Zeit erst viele Jahrhunderte später – im Verlauf des 19. und teils sogar erst im 20. Jahrhundert. Der britische Ökonom Agnus Madison schrieb dazu: “For Europe as a whole, the 12th century Chinese situation was not achieved until the 20th century”.

Die „Great Divergence“: Europas Aufstieg und globale Ungleichheiten 

Um 1800 begann ein tiefgreifender Wandel in der Weltgeschichte – die sogenannte „Great Divergence“. Damit ist die Phase gemeint, in der Westeuropa wirtschaftlich und technologisch anderen Weltregionen deutlich voraus zu sein begann. Während zuvor Regionen wie China, Indien oder Teile der islamischen Welt vergleichbare oder sogar höhere Entwicklungsniveaus aufwiesen, setzte nun ein Prozess ein, der zu langfristigen und gefestigten globalen Ungleichheiten führte. 

Über die genauen Faktoren, die zu Europas starkem Wirtschaftswachstum im 19. und 20. Jahrhundert führten, wird noch immer viel diskutiert. Für eine lange Zeit wurde (durch Europäer*innen) versucht, Europas Aufstieg mit vermeintlicher kultureller Überlegenheit zu erklären: mit Rationalität, Innovationskraft und besonderen politischen Institutionen. Und obwohl technologische Entwicklungen wie die Dampfmaschine und die Eisenbahn, institutionelle Veränderungen wie Eigentumsschutz, sowie die Industrialisierung zur Wirtschaftsleistung beitrugen, können sie allein das Wirtschaftswachstum während des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa nicht erklären.  

canva/wirtschaftsaufschwung

Inzwischen gibt es immer mehr Geschichts- und Wirtschaftswissenschaftler*innen, die diese eurozentristische Geschichtserzählung kritisieren. Ein bekannter Vertreter ist der Historiker Kenneth Pomeranz, der zwei neue Faktoren in den Mittelpunkt der Diskussion rückt - den Zugang zu billiger Energie (Kohle) und die Ausbeutung kolonialer Ressourcen. Diese externen Ressourcen ermöglichten es Europa, ökologische Grenzen zu überwinden, die industrielle Produktion massiv auszuweiten und neue Absatzmärkte zu erschließen.  

Der europäische Kolonialismus war keine Randerscheinung, sondern eine zentrale Voraussetzung für Europas wirtschaftlichen Aufstieg, der ohne diese gewaltsame Ausbeutung kaum möglich gewesen wäre. 

Der europäische Kolonialismus – unter dem über 12 Millionen Menschen versklavt und verschleppt wurden, ganze Kontinente systematisch ihrer Ressourcen beraubt und zahllose Kriege geführt wurden – war keine Randerscheinung, sondern eine zentrale Voraussetzung für Europas wirtschaftlichen Aufstieg, der ohne diese gewaltsame Ausbeutung kaum möglich gewesen wäre. 

Noch immer sind globale Handelsstrukturen so aufgebaut, dass vor allem westliche Länder profitieren – während viele Länder des Globalen Südens benachteiligt bleiben. Das zeigt sich beispielsweise in der Kakaoproduktion - Ein Großteil des weltweiten Kakaos wird in Westafrika unter ausbeuterischen Bedingungen produziert, doch der Hauptgewinn entsteht in Europa und Nordamerika – dort, wo die Schokolade verarbeitet, vermarktet und verkauft wird. 

Folgen 

Daraus lassen sich zwei zentrale Erkenntnisse ziehen: Erstens war die globale Wirtschaftsgeschichte stets im Wandel. Machtzentren verschoben sich über Jahrhunderte hinweg, und es gab lange Phasen, in denen asiatische und afrikanische Reiche wirtschaftlich und kulturell deutlich vor Europa lagen. Zweitens war der Aufstieg Europas zur einer der führenden Wirtschaftsmächte kein Ergebnis kultureller Überlegenheit, sondern vor allem das Resultat geografischer Vorteile und systematischer Ausbeutung im Rahmen des Kolonialismus. 

Die bis heute bestehende globale Ungleichheit ist somit kein natürlicher Zustand, sondern wesentlich ein Erbe kolonialer Machtverhältnisse. Diese historische Einsicht ist entscheidend, um die wirtschaftlichen Ungleichheiten der Gegenwart nicht nur zu begreifen, sondern auch kritisch zu hinterfragen. Wenn der Reichtum des Westens unter anderem auf der Ausbeutung anderer Weltregionen beruht – und in vielen Fällen noch immer davon profitiert –, stellt sich die drängende Frage: Welche Verantwortung tragen wir heute gegenüber jenen Gesellschaften, die von diesen Strukturen betroffen waren und es zum Teil noch immer sind?  

canva/ungerechtigkeit

Quellen

Frankopan, Peter: The Silk Roads: A New History of the World (2015)

Goldstone, Jack: Why Europe? The Rise of the West in World History, 1500–1850 (2008) 

Hobson, John: The Eastern Origins of Western Civilization (2004)

Juhász, Reka & Steinwender, Claudia; Bundeszentrale für Politische Bildung: Mehr als Protektionismus (Januar, 2024)

Maddison, Agnus; OECD Development Centre Studies: Chinese Economic Development in the Long Run (2007)

Pomeranz, Kenneth: The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World Economy (2000)

Verfasst am 27. Mai 2025

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