Im World Report 2015 dokumentiert die Menschenrechts-Organisation Human Rights Watch zum 25. Mal die Menschenrechtslage in mehr als 90 Ländern weltweit. Der Report zeigt die weitreichenden Nachforschungen, denen die Mitarbeiter von Human Rights Watch 2014 nachgegangen sind, meistens in enger Zusammenarbeit mit Menschenrechtsaktivisten in den jeweiligen Ländern. In der Einleitung macht Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch, auf die Wagenburgmentalität aufmerksam, wenn es um Menschenrechte geht – diese kontraproduktive Haltung haben viele Regierungen in den vergangenen von Aufruhr geprägten Jahren vertreten. „Menschenrechtsverletzungen spielten eine große Rolle, wenn es um die Entstehung und Verschärfung der heutigen Krisen geht“, sagte Roth. „Die Menschenrechte zu schützen und demokratische Verantwortlichkeit sicherzustellen, sind der Schlüssel zur Lösung dieser Krisen.“ Der Aufstieg der extremistischen Gruppe „Islamischer Staat“ (auch als ISIS bekannt) ist eine der globalen Herausforderungen, die eine Unterordnung von Menschenrechten hervorgerufen haben, so Human Rights Watch. Aber ISIS ist nicht aus dem Nichts entstanden. Neben dem Sicherheitsvakuum, das die US-Invasion im Irak zurückgelassen hat, waren auch die sektiererische und von Menschenrechtsverletzungen geprägte Politik der irakischen und syrischen Regierungen und die internationale Gleichgültigkeit darüber wichtige Faktoren, die zum Aufstieg von ISIS beigetragen haben. Während der irakische Premierminister Haider-al-Abadi zugesichert hat, alle gesellschaftlichen Gruppen besser integrieren zu wollen, stützt sich die Regierung immer noch hauptsächlich auf schiitische Milizen, die straffrei sunnitische Zivilisten ermorden und ethnische Säuberungen durchführen. Auch Regierungstruppen greifen Zivilisten und Wohngebiete an. Das korrupte und von Missbrauch gepägte Rechtssytem zu reformieren und die sektiererischen Regierungsweise aufzuheben, dies ist mindestens eben so wichtig wie Militäreinsätze, um die Gräueltaten von ISIS zu beenden. Bisher ist es al-Abadi nicht gelungen, erforderliche Reformen umzusetzen. In Syrien haben die Truppen von Präsident Bashar al-Assad vorsätzlich und brutal Zivilisten in Gebieten angegriffen, die von der Opposition kontrolliert wurden. Der Einsatz von willkürlich tötenden Waffen - meist die gefürchteten Fassbomben - hat das Leben für Zivilisten nahezu unerträglich gemacht. Doch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat weitgehend tatenlos zugesehen, da Russland und China ihr Veto eingelegt haben, wodurch ein gemeinsames Vorgehen gegen das wahllose Töten verhindert wurde. Die USA und ihre Verbündeten haben es zugelassen, dass ihre Militäreinsätze gegen ISIS die Anstrengungen in den Hintergrund gerückt haben, Damaskus zu einem Ende der Menschenrechtsverletzungen zu drängen. Durch dieses selektive Vorgehen kann ISIS bei der Rekrutierung potentieller Unterstützer darauf verweisen, dass ISIS die einzige Kraft sei, die gegen Assads Gräueltaten vorgehe. Eine ähnliche Dynamik spielt sich in Nigeria ab, wo Menschenrechtsverletzungen eine zentrale Rolle in dem Konflikt einnehmen. Die militante islamistische Gruppierung Boko Haram greift sowohl Zivilisten als auch nigerianischen Sicherheitskräfte an, bombardiert Märkte, Moscheen und Schulen und entführt Hunderte Mädchen und junge Frauen. Nigerias Armee hat oft mit Menschenrechtsverletzungen darauf geantwortet: Hunderte Männer und Jungen wurden unter dem Verdacht, Boko Haram zu unterstützen, zusammengetrieben, verhaftet, misshandelt und sogar getötet. Aber um die „Herzen und Köpfe“ der Bürger zu gewinnen, muss die Regierung die mutmaßlichen Menschenrechtsveretzungen durch die Armee transparent untersuchen und die Täter bestrafen. Dass Menschenrechte aus Gründen der Sicherheit ignoriert werden, dies ist ein Problem, das in den letzen Jahren auch in den USA aufgetreten ist. Ein Ausschuss des US-Senats hat einen belastenden Bericht über Folter durch die CIA herausgegeben. Während Präsident Barack Obama Folter unter seiner Führung eine Absage erteilte, hat er es abgelehnt, die Rolle derjenigen zu untersuchen, die die Folter angeordnet haben, die in dem Senatsbericht detailliert beschrieben wird – von einer strafrechtlichen Verfolgung ganz zu schweigen. Dadurch dass diesen rechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen wird, wird es wahrscheinlicher, dass zukünftige Präsidenten Folter als politische Option anstatt als Straftat betrachten. Dies schwächt auch sehr die Möglichkeit der US-Regierung, andere Länder zur Verfolgung ihrer eigenen Folterer zu drängen. In zu vielen Ländern, etwa in Kenia, Ägypten und China, haben Regierungen und Sicherheitskräfte auf realen oder mutmaßlichen Terrorismus mit Menschenrechtsverletzungen reagiert, die die Krise letztlich angeheizt haben. In Ägypten vermittelt die Zerschlagung der Muslimbruderschaft durch die Regierung die zutiefst kontraproduktive Botschaft, dass wenn politische Islamisten die Macht durch Wahlen erlangen, sie ohne Protest wieder abgesetzt werden. Das könnte weitere Gewalt begünstigen. In Frankreich besteht die Gefahr, dass die Antwort der Regierung auf die Angriffe gegen „Charlie Hebdo“ die Meinungsfreiheit beeinträchtigen könnte. Mit Antiterrorgesetzen könnte gegen Aussagen vorgegangen werden, die nicht zu Gewalt aufrufen. Dadurch könnten auch andere Regierungen ermutigt werden, solche Gesetze zu verwenden, um Kritiker zum Schweigen zu bringen. Gefahren für die Sicherheit kann nur dann erfolgreich begegnet werden, wenn nicht nur gegen bestimmte gefährliche Einzelpersonen vorgegangen wird. Auch muss die moralische Grundlage wieder geschaffen werden, welche die soziale und politische Ordnung begründet. „Einige Regierungen begehen den Fehler, Menschenrechte als ein Luxusgut für besser Zeiten zu halten. Sie sind jedoch ein wichtiger Kompass für politisches Handeln,“ sagte Roth. „Statt die Menschenrechte als lästige Einschränkung zu betrachten, sollen die politischen Entscheidungsträger sie als moralischen Wegweiser anerkennen, der einen Weg aus Krisen und Chaos bietet. Den Human Rights Watch World Report 2015 können Sie auf englisch downloaden. Foto: Islamic Relief