Der Kolonialismus ist vorbei – oder? 1980 erklärte Simbabwe als letztes afrikanisches Land seine Unabhängigkeit von einer europäischen Kolonialmacht. Damit war der offizielle Rückzug der Kolonialmächte vom Kontinent abgeschlossen. Also: Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Zwar endete mit der politischen Unabhängigkeit die direkte Herrschaft der Kolonialmächte – doch viele ihrer Spuren wirken bis heute nach. Genau hier setzen postkoloniale Perspektiven an. Sie fragen: Was ist vom Kolonialismus geblieben – auch wenn seine sichtbarsten Formen längst aus dem (europäischen) Blickfeld verschwunden sind? Dabei verlassen sie genau dieses Blickfeld und schaffen Raum für vielfältige Perspektiven. Was genau sind Postkoloniale Perspektiven? In den letzten Jahren haben postkoloniale Perspektiven in der Politik- und Geschichtswissenschaft zunehmend an Bedeutung gewonnen. Postkoloniale Forschung “fragt, wie sich koloniale Herrschaft in Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Literatur, Kunst und Recht, in der Populärkultur oder in Alltagskontexten manifestiert, und wie sie sich bis in die Gegenwart hinein auswirkt” (Bundeszentrale für Politische Bildung, 2017). Es geht darum, dass die Auswirkungen des Kolonialismus noch bis heute spürbar sind – auch wenn die meisten ehemaligen Kolonien inzwischen offiziell unabhängig sind. Ein zentrales Anliegen ist dabei die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Denk- und Darstellungsmustern, die Europa häufig als universellen Maßstab oder Mittelpunkt darstellen (= Eurozentrismus). Ziel ist es, diese einseitigen Perspektiven zu überwinden und Raum für vielfältigere Sichtweisen zu schaffen. Warum sind Postkoloniale Perspektiven wichtig?Postkoloniale Perspektiven helfen, globale Ungleichheiten besser zu verstehen, indem sie zeigen, wie wirtschaftliche Ausbeutung, Ressourcenungleichheit und politische Vorherrschaft bis heute soziale und wirtschaftliche Verhältnisse prägen. Historische Ungerechtigkeiten sollen aufgearbeitet und Teil der kollektiven Erinnerung werden. In einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt sind postkoloniale Denkansätze wichtig, um bestehende Machtverhältnisse gerechter zu gestalten und echte interkulturelle Dialoge auf Augenhöhe zu führen, die auf gegenseitigem Respekt und Verständnis beruhen. Wichtige Autoren aus dem Bereich der Postkolonialen Forschung: Walter Rodney - Eine Kritik von Eurozentrischer Geschichtserzählung Walter Rodney (1942-1980), ein panafrikanisch geprägter Historiker und Politiker aus Guyana, beschäftigte sich in seiner Arbeit vor allem mit einer historischen und wirtschaftlichen Analyse der globalen Ungleichheiten, insbesondere in Bezug auf Afrika. Er argumentierte zum Beispiel in seinem Buch "Wie Europa Afrika unterentwickelte", dass es kein natürliches Phänomen sei, dass Afrika “weniger entwickelt” ist, sondern das direkte Ergebnis europäischer Ausbeutung während des Kolonialismus und Sklavenhandels. Europa entwickelte sich auf Kosten Afrikas, indem es Arbeitskräfte, Rohstoffe und Reichtümer raubte. Außerdem, schreibt Rodney, führte der Kolonialismus zu zerrütteten afrikanischen Gesellschaften, hemmte lokale Industrien und förderte wirtschaftliche Abhängigkeit. Er betont, dass die Abhängigkeiten zu Europa Afrikas Fortschritt blockierten und fordert eine Befreiung von neokolonialen Machtstrukturen und einen Wandel zu mehr Eigenständigkeit.Frantz Fanon - Eine Kritik von kolonialen Machtverhältnissen und internalisiertem Rassismus Bild: © https://thetricontinental.org/dossier-26-fanon/, Public domain, via Wikimedia CommonsDer französische Psychiater, Philosoph und antikoloniale Vordenker Frantz Fanon (1925-1961) untersuchte u.a., welche psychologischen Folgen Kolonialismus und Rassismus auf Schwarze Menschen hatten und haben. Die systematische Abwertung und Entmenschlichung während der kolonialen Herrschaft – eine Form psychologischer Gewalt – führte laut Fanon zu Identitätsverlust, Entfremdung und tief verankerten Minderwertigkeitsgefühlen, die bis in die Gegenwart hineinwirken. Er forderte beispielsweise in seinem Buch "Die Verdammten dieser Erde" dazu auf, westliche Normen in Frage zu stellen und zu überdenken und rief dazu auf, ein neues, selbstbestimmtes Bewusstsein und Selbstwertgefühl zu entwickeln. Grace Musila - Eine Kritik von kolonial geprägter Erinnerungs- und Wertekultur Grace Musila ist eine Literaturwissenschaftlerin aus Kenia. Sie beschäftigt sich vor allem damit, wie die Kolonialzeit noch immer Spuren in heutigen Gesellschaften hinterlässt. Besonders betont sie, dass viele rassistische Vorurteile und Denkweisen, die während der Kolonialherrschaft entstanden sind, noch immer in afrikanischen Gesellschaften weiterleben – selbst, wenn diese Länder heute politisch unabhängig sind. Musila macht deutlich, wie tief solche rassistischen Denkmuster verankert sein können und wie sie das Selbstbild und das Zusammenleben in der Gesellschaft beeinflussen. Deshalb hält sie es für besonders wichtig, sich gemeinsam an vergangene Erfahrungen zu erinnern und eigene Denkweisen zu hinterfragen – als eine Form des Widerstands gegen alte und neue Ungerechtigkeiten. Oyeronke Oyewumi - Eine Kritik von eurozentrischen Normvorstellungen und Wissenschaft Oyeronke Oyewumi ist eine Soziologin aus Nigeria. Sie beschäftigt sich damit, wie der Kolonialismus das Denken über Geschlechter und Gender in Afrika verändert hat. In ihrem Buch The Invention of Women (1997) erklärt sie, dass es in vielen afrikanischen Gesellschaften vor der Kolonialzeit, beispielsweise bei den Yoruba, einer der größten ethnischen Volksgruppen im Südwesten des heutigen Nigerias, gar keine festen, biologisch bestimmten Rollen für Männer und Frauen gab. Stattdessen spielten Alter, soziale Stellung oder Aufgaben in der Gemeinschaft eine größere Rolle. Erst durch den europäischen Kolonialismus wurde die westliche Vorstellung von „Mann“ und „Frau“ eingeführt und damit einhergehende westliche Geschlechterrollen als normal dargestellt.Bild: Oyeronke Oyewumi, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia CommonsOyewumi kritisiert, dass westliche Vorstellungen von Geschlecht oft auf die ganze Welt übertragen werden, selbst wenn sie dort kulturell gar nicht passen. Dieses Muster gilt auch für viele andere westliche Normen und Wertvorstellungen, die im Zuge von Kolonialismus und Globalisierung weltweit verbreitet wurden. Deshalb betont sie wie wichtig es ist westliche Normen zu hinterfragen, afrikanisches Wissen und Erfahrungen ernst zu nehmen und die afrikanische Geschichte besser zu erforschen. Ha-Joon Chang - Eine Kritik von eurozentrischer Wirtschaftspolitik Bild: © Discott, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia CommonsHa-Joon Chang ist ein südkoreanischer Wirtschaftswissenschaftler, der in seinem Buch Kicking Away the Ladder (2002) die Entwicklungspolitik und den Welthandel kritisiert. Er schreibt, dass viele reiche Länder heute von ärmeren Ländern verlangen, sich an bestimmte Wirtschaftsregeln zu halten – z. B. offene Märkte, keine Zölle, wenig staatliche Eingriffe. Das nennt man „neoliberale Politik“. Chang zeigt aber, dass diese reichen Länder früher selbst ganz anders vorgegangen sind: Sie haben ihren wirtschaftlichen Erfolg oft durch Zölle, Subventionen und staatliche Unterstützung erreicht – also durch den Schutz ihrer eigenen Wirtschaft. Jetzt, wo sie reich sind, verbieten sie genau diese Methoden den Entwicklungsländern. Chang sagt, sie „treten die Leiter weg“, die ihnen selbst beim Aufstieg geholfen hat. Deshalb ist es wichtig, dass wirtschaftliche und politische Vorgaben von internationalen Organisationen besser an lokale Gegebenheiten angepasst und auch lokal entschieden werden. Es soll nicht einfach blind das vorgeschrieben werden, was im Westen als „richtiger Weg“ gilt. Wie schlecht angepasst viele dieser neoliberalen Wirtschaftsvorschriften an Entwicklungsländer waren, zeigte sich beispielsweise mit den sogenannten Structural Adjustment Programs (SAPs) der Weltbank und des IWF in den 1980er- und 1990er-Jahren. Diese Programme sollten zu wirtschaftlichem Aufschwung verhelfen und forderten dafür drastische Kürzungen öffentlicher Ausgaben, Privatisierung und Marktöffnung – oft ohne Rücksicht auf soziale Folgen. In vielen Ländern führten sie in den Jahren danach zu steigender Armut, schlechterer Gesundheitsversorgung, Bildungsabbau und politischer Instabilität. Statt Entwicklung zu fördern, vertieften sie in vielen Fällen wirtschaftliche Abhängigkeit und soziale Ungleichheit. Was lernen wir daraus? Postkoloniale Theorien zeigen, dass die koloniale Vergangenheit nicht einfach durch die „Unabhängigkeit“ der vormals kolonisierten Länder vorbei ist, sondern bis heute unsere Welt prägt. Sie helfen uns, aktuelle Ungleichheiten, Machtverhältnisse und Denkweisen besser zu verstehen und zu hinterfragen. In Politik und Wirtschaft machen sie sichtbar, wie internationale Regeln oft im Interesse reicher Länder gestaltet sind – und nicht unbedingt im Sinne globaler Gerechtigkeit. In der Wissenschaft fordern sie dazu auf, westliches Wissen nicht als "neutral" oder "universal" zu sehen, sondern kritisch zu prüfen, was und wer darin unsichtbar gemacht wird. Auch für gesellschaftliche Debatten – etwa über Identität, Erinnerungskultur, Rassismus oder Geschlechterrollen – liefern postkoloniale Perspektiven wichtige Impulse. Sie fordern mehr Vielfalt, historisches Bewusstsein und Gerechtigkeit. Vor allem machen sie deutlich: Wenn wir eine faire und gleichberechtigte Welt wollen, müssen wir alte Machtstrukturen erkennen, benennen – und aktiv verändern. QuellenChang, Ha-Joon: Kicking Away the Ladder: Development Strategy in Historical Perspective (2002)Engelhardt, Marc; Deutschlandfunk: Frantz Fanon: Für eine afrikanische Revolution (Juni 2022) Fanon, Frantz. The Wretched of the Earth (2001)Musila, Grace: A Death Retold in Truth and Rumour: Kenya, Britain and the Julie Ward Murder (2016)Oyewumi, Oyeronke The invention of women: Making an African sense of western gender discourses (1997)Purtschert, Patricia; Bundeszentrale für Politische Bildung: Postkolonialismus und intellektuelle Dekolonisation (Januar 2017) Rodney, Walter: How Europe Underdeveloped Africa (2018)Verfasst am 22. Mai 2025